Moment-aufnahmen

Fetzen aus dem Westen Frankreichs

Figeac / Toulouse / Bordeaux, Frankreich

Sonntag, 15.30 Uhr

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Ankunft in Figeac, das im letzten Jahr meine Heimat war. Am Bahnhof erwarten mich Florence und Xavier, alte Freunde. Mit all den Leuten bei den beiden zu Hause, die sie nur auf einen schnellen Nachmittagsdrink eingeladen haben, wird das Sprechtempo direkt von „wir reden jetzt laangsam weil Anna seit Juni nicht mehr hier war“ auf den schnellen Schlagabtausch einer französischen Komödie erhöht. Der Apéritif wird dann natürlich, wie könnte es anders sein, zu einem Abendessen. Und das Abendessen zieht sich in die Nacht. Aber das ist okay, denn der Dialog ist dermaßen scharf und schlagfertig, dass man wirklich gut unterhalten wird. Und wird dennoch immer wieder liebevoller, nachdem ein Witz auf Kosten eines Einzelnen gemacht wurde, bestärkend, um im nächsten Moment den nächsten frechen Kommentar zurückzubekommen.

Alle rauchen drinnen im Wohnzimmer. Alle trinken Kaffee zum Nachtisch und kümmern sich kein bisschen um den Koffeineinfluss kurz vor Mitternacht. Oh ja, ich erinnere mich wieder an die typische Façon eines französischen Dîners. Was hab ich das vermisst!

Montag, 5.40 Uhr

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Überraschend früh wache ich auf (wahrscheinlich doch zu viel Kaffee am Vortag) und öffne das Fenster. Es ist ungewohnt, nicht, wie in Deutschland, von einer Kältewoge erschlagen zu werden. Ich lasse das Fenster offen. Der Blick geht auf einen kleinen Platz, umgeben von steingemauerten Häusern. Gegenüber leuchtet eine Laterne in schummrigem Orange. Der Himmel ist noch tief dunkelblau, aber während ich zurück ins Bett falle und während der nächsten Stunde, als ich nicht mehr einschlafen kann, höre ich schon die ersten Vögel den Morgen bezwitschern.

Montag, 13 Uhr
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Ich bin zurück in Toulouse und meine Mitreisende, eine Kommilitonin aus Dresden, ist jetzt auch angekommen. Wir übernachten bei einer Bekannten aus dem letzten Jahr, einer Literaturstudentin in Toulouse, deren Apartment mit drei bodentiefen Fenstern mit diesen französischen Mini-Balkons ausgestattet ist, hell und mitten im Zentrum der Altstadt.

Montag, 15.45 Uhr

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Wir sind auf Erkundungstour durch die Stadt, und obwohl ich schon mehrmals hier war, sind wir dabei, uns heillos zu verirren. Wir sind aber gleichermaßen begeistert von den Backsteingebäuden in „La Ville Rose“. Dieser Name – die rosa(rote) Stadt – könnte passender nicht sein, man geht durch die Straßen und es ist ein Mosaik von immer neu kombinierten Farbpaletten von ziegelrot, taubenblau und Beigetönen; immer abwechselnd sind Fensterläden, Balkons und Fassaden in Variationen dieser selben Farben gehalten. Details des Stadtbilds wie vereinzelte Fachwerkhäuser, mit Pflanzen überquellende Balkons, bunte Jugendstil-Fenster, nur 4 Meter schmale Häuser, die sich gerade so in die Lücken zwischen den anderen quetschen, und massenhaft Türmchen, verzierte Eingangstüren und ganze Großfamilien von Schornsteinen werden entdeckt, fotografiert und setzen sich als charmante Bruchstücke in unserem Kopf zur Erinnerung von der Stadt „Toulouse“ zusammen.
Wir nehmen uns Zeit, in Papierläden und Geschäfte reinzugucken, die irgendwo zwischen Antiquariat, Buchladen und Schallplattenlager stehen geblieben zu sein scheinen.
Genießen das Sich-Verlaufen in der Hinsicht, dass man immer weiß, notfalls kann man den Fluss (die Garonne) suchen und sich orientieren, aber in diesem Moment ist es gerade ganz schön, sich im Straßengewirr zu verlieren, die Stadt kennenzulernen bzw. wieder aufs Neue kennenzulernen.

Montag, 20.10 Uhr

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Beide furchtbar müde, weil wir zu wenig Schlaf bekommen haben, haben wir eine 2-stündige Pause im Apartment eingelegt. Nun hab ich mich grad vom Sofa wieder hochgequält, meine Freundin schläft noch. Die Balkontüren werden geöffnet und es strömen Straßengeräusche hinein, Motorradröhren, und Abendluft.

Ich hab ein paar Minuten für mich und koche uns allen Abendessen, und genieße diese paar Minuten, wo ich nichts Urlaubsmäßiges mache, sondern einfach etwas koche, als würde ich selber hier leben. Wie als ob ich ein paar Minuten in dieser Fantasie lebe, in einem kleinen französischen Zimmer zu wohnen, hierher zu gehören, Wahl-Toulousaine zu sein.

Dienstag, 9.50 Uhr

20180310_184018Ausgeschlafen und aus einem wahren Berg von Decken herausgeklettert, wollen wir jetzt schön zusammen frühstücken gehen.
Das Petit-Dej bekommen wir auf einem Platz mit Blick auf die Cathédrale St. Étienne. Es gibt Chocolatines (Schokobrötchen), Saft und Café Crème, und wir sitzen im Sonnenschein, der so warm auf den Beinen ist, dass man eine Sekunde lang denkt, man hätte sich Kaffee übers Bein geschüttet, weil es so überraschend plötzlich so warm ist. Um an dieser Stelle zukünftige Toulouse-Touristen vor sehr bösen Blicken zu bewahren: Hier muss man Chocolatine sagen, nicht Pain au chocolat. Ich kenne das zum Glück noch aus dem letzten Jahr, fange mir aber ein Lächeln von der Kellnerin ein, als sie an meinem Akzent merkt, dass ich Ausländerin bin und es dennoch richtig sage. Verschwörerisch sagt sie: So ist es richtig, sag immer Chocolatine. Sonst herrscht hier „La guerre“!
Und dann sitzt man dort in der Sonne und es ist gerade erst der Anfang des Urlaubs. Die Chocolatines sind buttrig, und die Backsteinhäuser leuchten rot gegen den blauen Himmel, und das ist (Zitat meiner Mitreisenden) „schon ziemlich nahe dran an Perfektion.“

Dienstag, 11 Uhr

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Wir haben das charmante Viertel „Les Carmes“ hinter uns gelassen und laufen jetzt über die Brücke „Pont Neuf“ auf die andere Flussseite. Wenn man in der Mitte der Brücke steht, kann man in Richtung Süden die schneebedeckten Pyrenäen sehen.

Auf der Westseite der Garonne erwarten uns flachere Häuser, nur noch zwei Stockwerke hoch und die obersten Fenster so klein wie Dachluken. Marokkanische Obstläden, arabische Bistros und unten in den Ladenräumen Friseure, die auf Plakaten mit Afro-Flechtfrisuren werben. Immer noch sind nahezu alle Häuser aus Backstein, aber es wirkt wie ein Mix aus einer kleinen Stadt am Meer und dem „richtigen“ Toulouse.

Dienstag, fast 13 Uhr

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Auf dem Weg zum Capitol, dem Rathaus, größtem Gebäude auf dem größten Platz der Stadt, wurden wir noch aufgehalten. Von Schaufenstern. Die uns magisch angezogen haben. Sodass nach ein paar schnellen Entschlüssen plötzlich eine übergroße Stoff-Shoppingtasche über meiner Schulter hängt, ich eine süße Ballonmütze auf dem Kopf habe und um ein paar Euro ärmer bin. Allerdings bin ich jetzt wieder in dieser Stimmung, die mich oft nach ein paar Tagen Frankreich ergreift, oder jedes Mal, wenn ich einen Blick in „How to  be parisian: wherever you are“ werfe, das einzige Stil-Buch, was mich wirklich inspiriert. Ich möchte jetzt nur noch weiß und schwarz und jeansblau tragen, und Streifen und roten Lippenstift, und mich très chic fühlen. Frankreich hat da eine mitreißende Kraft, die mich in Selbstbewusstsein und Begeisterung für knallig rote Lippen bestärkt.

Dienstag, 18.59 Uhr

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Wir sind in Bordeaux angekommen, und es regnet. Hier sind die Häuser größtenteils weiß und grau, was zum Himmel passt. Nach dem bunten, lebendigen Toulouse erscheinen mir die Straßen hier kalt und leer, was noch dadurch verstärkt wird, dass wir eine Stunde auf unsere Airbnb Hosts warten müssen.
Das Zimmer ist zwar sehr sauber, aber nicht besonders hell und ziemlich kalt. Wer kommt denn auf die Idee, einen Keller zu einem Ferienzimmer umzufunktionieren?
Wir beide haben insgeheim Sehnsucht nach Toulouse, wollen aber auch offen sein für die neue Stadt und machen uns abends auf den Weg, ein Restaurant zu finden. Was sich als unfassbar schwere Operation erweist.

Aus irgendeinem Grund sind in Bordeaux wahnsinnig viele asiatische Bistros, aber wir finden kein französisches Restaurant. Kein einziges! Laufen immer gehetzter durch die Straßen, weil wir echt Hunger haben, und der Weg erscheint uns nochmal länger, weil es eine fremde Stadt ist. Ist es nicht seltsam, wie viel kürzer einem ein Fußmarsch erscheint, wenn einem die Strecke vertraut ist?
Wir verstehen beide nicht so richtig, was los ist, denn auf der Straße sieht man keine Menschenseele. Wir kommen zwar an zwei, drei Bars vorbei, aber die sind eben wie kleine soziale Nester im Nirgendwo der leeren Straßen.
Schließlich finden wir ein paar französische Restaurants am Place des Grands Hommes und entscheiden uns für das mit den am wenigsten stolzen Preisen (wobei das immer noch gut teuer ist). Wir gehen hinein und jetzt ist es eigentlich auch egal, was, Hauptsache, schnell irgendwas zu essen.
Wir kommen hinein, und das kleine Lokal ist absolut voll. Wir schlängeln uns zum letzten Zweiertisch, man sitzt quasi mit seinen Nachbarn zusammen, aber immerhin sitzen wir, wir haben einen Platz bekommen, und ein netter Kellner bringt uns ungefragt Wasser mit Zitrone und wir können bestellen. Das Ambiente ist seltsamerweise amerikanisch gehalten (seltsam, weil es draußen als typisch französisches Family-Restaurant angepriesen wird). Aber dann kommt das Essen, und es ist absolut überraschend. Viel, viel schicker, als man das erwarten würde in diesem Lokal, wo die Bar das Zimmer dominiert, Kuhfell an der Wand hängt und ein Fußballspiel übertragen wird. Aber beim Essen ziehen die Franzosen dann wohl die Grenze. Das ist eine ernste Angelegenheit. Und so bekommen wir halbrohes Steak haché (gehackt) mit Trüffelbutter, und Lachstartar, und sehr leckeren Salat, und fühlen uns im Lärm der Leute plötzlich doch ganz wohl und gut versorgt, und als wäre die lange Suche es wert gewesen.

Dienstag, 22.20 Uhr

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Wir sind in einer kleinen Bar in der Nähe der Grosse Cloche, 2 Gläser Rotwein vor uns. Es ist leckerer Wein, heißt Haut Médoc.
Es war ein langer Tag.

Mittwoch, 9.45 Uhr
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Heute gibt es Frühstück an einem kleinen Platz namens Fernand Lafargue, in einem lauten Bistro mit Hochstühlen und frisch gepresstem Orangensaft. Draußen auf dem Platz fliegt eine Wolke von Tauben. Sie sitzen auf der Fassade in einer Reihe und tummeln sich unten, bis es anfängt, zu regnen, und wir uns mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch die Stadt aufmachen.

Mittwoch, 11 Uhr

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Genau zur Öffnungszeit erreichen wir das CAPC, das Museum für zeitgenössische Kunst. Typisch mal wieder für uns, keine Ahnung von nüscht, kein bisschen recherchiert, aber durch schieres Glück geht dann doch alles genau auf.
Das Museum an sich ist ein echt schönes Gebäude, die Kunst muss man aber tatsächlich suchen. Es ist wirklich schlecht ausgeschildert und so laufen wir in Kreisen bis ganz nach oben, bis wir zufällig auf den Eingang zu einer kleinen Ausstellung stoßen und diese dann – vom Ende zum Anfang, in falscher Reihenfolge – ablaufen. Es sind ein paar ganz coole Stücke dabei, über die man sich unterhalten kann, Installationen mit Licht und Ketten. Aber es sind wirklich wenige Stücke! Ein bisschen enttäuschend, aber nichts, was ein schöner Museumsshop nicht wieder gut machen könnte. 😀
Danach laufen wir die Straße der Antiquitätenhändler hoch, schauen in Schaufenster, alte Möbel und Lampen und Spiegel. Viele Geschäfte sind geschlossen. Warum ist diese Stadt denn so ausgestorben?

Mittwoch, 17.10 Uhr

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Wir sind nach einer Pause nochmal losgegangen, mit der langsam sterbenden Hoffnung, irgendwo doch noch ein wenig Leben in der Stadt zu finden. Und was soll ich sagen – wir haben es gefunden! Urplötzlich und auf einen Schlag waren die Straßen VOLL. Ich kann nicht sagen, wo die ganzen Menschen herkamen. Unsere Theorie ist, dass am Vorabend ein wichtiges Fußballspiel lief, das sie alle zu Hause angesehen haben, und dann die ganze Stadt am nächsten Tag ausschlafen musste. Die Verwandlung ist nicht zu fassen – die ausgestorbenen Straßen quellen nun über vor Menschen!

So einsam, wie wir uns am Vorabend gefühlt haben, fühlen wir uns jetzt als Teil einer wogenden Masse, und ich als Stadtkind bin endlich wieder in meinem Element. Bordeaux ist plötzlich so viel schöner!

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Nach einem schnellen Abendessen zieht uns Musik aus einer Bar an. Es ist voll dort, wir kämpfen uns durch, es spielt eine Live Band. Piano, Schlagzeug, Trompete, Saxophon und E-Gitarre machen Stimmung, und wir bleiben für ein paar Solos, ein paar Jazz-Improvisationen.
Dann gehen wir, nun euphorisiert und in Feier-Stimmung, noch eine Straßenecke weiter zur nächsten Bar. Es gibt Cocktails und eine rot beleuchtete Bartheke und sie spielen Beatles, als wir reinkommen. Eine enge Treppe führt hinauf zu noch mehr gemütlichen, hippen Räumen. Junge Menschen sitzen überall in kleinen Gruppen zusammen, und wir befinden uns auf unseren Hochstühlen an der großen Fensterscheibe fast wie zwischen der dunklen Straße draußen, wo lachende Franzosen vorbeilaufen, und der schummrig-coolen Stimmung drinnen.
Wir haben endlich das Bordeaux entdeckt, von dem mir vorgeschwärmt wurde. Keine Ahnung, wo es sich versteckt hatte, aber jetzt sind die Einwohner Bordeauxs aus ihren Wohnungen gekrochen gekommen, fröhlich und cool, und sehen alle so aus, als wären sie bereit, die Stadt zu erobern.

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Ein Gedanke zu “Moment-aufnahmen

  1. Auch mal schön. Genre-Wechsel, statt Rückblick mal ein Live-Tagebuch. Man ist wie unmittelbar dabei. Die Hand war schon halb auf dem Weg zur Weinflasche… (Potsdam 14:45 Uhr) … aber halt! Ein bisschen früh. Bin ja schließlich nicht in Frankreich :-)))

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